SadK #1 – Der Gast ist König

Noch 10 Minuten bis Arbeitsbeginn. Ich komme direkt in Arbeitskleidung zur Arbeit, denn richtige Umkleiden gibt es nicht, entweder man muss sich mit drei Kollegen gleichzeitig im winzigen Büro des Serviceunternehmens umziehen, oder auf der dreckigen, viel zu engen Toilette. Außerdem zählt das Umziehen nicht zur Arbeitszeit, weshalb ich es vorziehe, dies entspannt zu Hause beim Musik hören zu erledigen.

Dann schnell den Schichtleiter suchen, der irgendwo gestresst herumrennt, der muss mich einchecken. Oft ist es dann schon nach Arbeitsbeginn, wenn meine Arbeitszeit erfasst wird. Früher gab es noch die klassischen Stundenzettel, auf denen hat der Schichtleiter am Ende der Schicht auch mal eine halbe Stunde mehr aufgeschrieben, wenn es mal wieder besonders stressig war, weil wir zu wenige Kellner waren, oder die Pause ausgefallen ist. Das geht seit der elektronischen Erfassung nicht mehr. Die Pausen müssen eingehalten werden, denn das System geht davon aus, dass man sie gemacht hat. Dass man oft nicht zu einer Pause kommt, heißt dann 15 Minuten oder eine halbe Stunde unbezahlte Arbeit.

Mit Sektempfang geht es los. Die Geschäftsführer irgendeines Unternehmen treffen sich, um sich gegenseitig auf die Schulter zu klopfen, was sie für ein tolles Jahr hatten. Sie haben nicht nur ganz viel Umsatz gemacht, sondern auch noch die Nachhaltigkeit gefördert und den Menschen richtig was Gutes getan. Das Allgemeinwohl steht nämlich natürlich immer an erster Stelle. Mit einem aufgesetzten Lächeln, das mir über den Abend Muskelkater in den Wangen verursacht, wechsle ich das volle Tablett von einer Hand in die andere, damit mir der Arm nicht einschläft, und begrüße Anzugträger nach Anzugträger.

Viele meiner Kollegen sind Minijobber oder Teilzeitkräfte, hauptsächlich angestellt bei diversen Zeitarbeitsfirmen, die sich hippe Namen geben, um für junge Leute attraktiv zu wirken. Man wird an verschiedenen Orten eingesetzt, so dass man in den wenigen Schichten, die man im Monat abbekommt, jedes Mal woanders und mit neuen Kollegen arbeitet. Viele Kollegen sind noch jung und oft nur übergangsweise in dem Job, um sich etwas anzusparen, bevor sie dann ins Ausland gehen, in den wohlverdienten Urlaub fahren, oder sich etwas Längerfristiges suchen. Das führt dazu, dass man seine Kollegen nie richtig gut kennenlernt und sich dementsprechend auch nicht zusammentut, um gegen schlechte Arbeitsbedingungen vorzugehen.

Dabei ist zum Beispiel die Lohnhöhe der unterschiedlichen Angestellten sehr verschieden, die neu eingestellten bekommen teilweise weit über 12 Euro pro Stunde, während der Spüler gerade einmal Mindestlohn bekommt, wenn er nicht schwarz für noch weniger arbeitet. Die Zeitarbeitsfirmen haben teilweise ein System der Versteigerung der Arbeitskraft, das heißt, man bewirbt sich auf Schichten, indem man den gewünschten Stundenlohn angibt, bis zu einer Grenze von 20 Euro. Dieser wird dann von Kollegen, je nachdem wie beliebt die Schicht ist, unterboten. Wer sich am billigsten anbietet, wird eingeteilt. Das kann mal den Jackpot bedeuten, 20 Euro pro Stunde, weil den anstrengenden Partyservice bis in den Morgen niemand machen wollte. Da denkt man sich dann: Mensch, das lohnt sich ja richtig hier zu arbeiten. Meistens bedeutet es aber, dass es schon irgendwen gibt, der es für weniger Geld macht und die Löhne gedrückt werden bis zum Geht-nicht-mehr. Hauptsache, das Unternehmen kann in die Jobanzeige schreiben: Stundenlohn von bis zu 20 Euro! Und die Arbeiter werden mit der Hoffnung auf mehr Geld bei Laune gehalten und davon abgelenkt, dass sie absolut keine Sicherheit und Planbarkeit haben.

Wenn das Unternehmen einen nicht mehr braucht, dann ist es auch mal ganz schnell vorbei mit dem Arbeitsplatz. So wie in der Corona-Krise, als die Gastronomien ihre Geschäftsgrundlage verloren, und einige ihre Mitarbeiter einfach entlassen haben. Dafür mussten sie den geringfügig Beschäftigten nicht mal kündigen, denn wenn es keine Schichten gibt, gibt es eben auch keinen Lohn. Das Unternehmen kommt dagegen am Ende fein raus; wenn es keine Serviceleistung mehr anbieten kann, weil das zusammen Trinken und Essen verboten wird, nutzt es sein Kapital einfach um Masken und Hygienelösungen anzubieten, und rettet sich so über die Krise. Die entlassenen Arbeiter haben nichts anderes als ihre Arbeitskraft anzubieten, die dann eben nicht mehr gebraucht wird.

Aber zurück zum Sektempfang. Man erzählt sich, die Schichtleitung wäre seit Tagen nicht richtig zu Hause gewesen und hätte nicht geduscht, weil es so viel zu tun gab. Da traut man sich dann nicht nach einer Pause zu fragen, als die halbe Schicht rum ist und es gerade so heiß hergeht, dass alle gebraucht werden. Die Gäste werden immer besoffener. Irgendein Gast hält es für witzig, den Knoten meiner Schürze aufzuziehen, seitdem trage ich den vorne unter der Schürze. Heute wenigstens ohne Angrapschen davongekommen.

Als der Abend endlich vorbei ist, legt der alte Mann, der die Feier organisiert hat, der Schichtleitung den Arm um die Schulter, drückt sie ganz fest an sich und pöbelt besoffen rum, dass das mit dem Service ja teilweise nicht so gut geklappt hat, aber dass man sich trotzdem ganz doll bei ihr bedanken will. Die Schichtleitung lächelt angestrengt und lässt es über sich ergehen. Hauptsache der Gast ist happy und beschwert sich später nicht beim Vorgesetzten. Mir hat zwischendurch ein männlicher Gast einen 10-Euro-Schein in die Hand gedrückt, mit einem Augenzwinkern und dem Hinweis das sei nur für mich. Weiß nicht, ob ich mich über das Geld freuen soll, oder kotzen will.

Ich gucke auf die Uhr. Wenn wir in zwei Stunden fertig sind mit aufräumen, dann schaffe ich noch die letzte Bahn. Sobald die Gäste weg sind, suche ich mir irgendeine Aufgabe, die Schichtleitung steht draußen und raucht sich erst mal den Stress vom Hals. Dann sollen wir alle noch zusammen ein Bier trinken und kriegen endlich etwas von den Resten zu essen. Es wird aber immer später, ich will endlich Feierabend haben. Nachdem ich gefühlte 2000 Gabeln poliert habe, nehme ich meine zwei Plastiktüten mit Fleisch und Rotkohl (die anderen 20 Kilo hochwertiges Essen, die niemand mitgenommen hat, wurden im Müll entsorgt) und ein Kollege, der ein Auto hat, fährt mich und die Anderen noch nach Hause. Nett von ihm, ich hätte sonst mit dem Nachtbus durch die halbe Stadt fahren müssen, von den „Top Locations der Stadt“ in mein Viertel, ganz weit weg von Champagner, Steak und Anzügen.