Eine Stimme aus dem Einzelhandel
Die erste Stunde vor der Ladenöffnung
Zwischen viertel vor und sechs trudelt die Frühschicht im Laden ein. Einige rauchen noch eine. Wir versammeln uns im Pausenraum. Die Filial- oder Schichtleitung macht ein paar Ansagen und verteilt die Arbeit.
Die Backkräfte bereiten schon vor dem Einstempeln ihre ersten Arbeitsschritte vor, und arbeiten ca. 5 Minuten, weil sie sonst nicht alles vor der Öffnung des Ladens schaffen würden. Das ist illegale Schwarzarbeit. Das passiert in fast jeder Filiale jeden Tag. Aufs Jahr hochgerechnet sind das Millionen, die der Konzern spart.
Dann geht’s los. Einstempeln und ran. Alle holen sich Funkgeräte. Angezogen ist man schon, denn Umziehen gehört nicht zur Arbeitszeit. Diejenigen die an die Tiefkühlware gehen, holen sich den Lieferschein, um zu wissen, was ihre Truhen sind. Eine Truhe soll man in maximal dreißig Minuten weghauen, sodass eine Person bis zur Öffnung des Ladens mindestens zwei Truhen verräumt haben, und am besten auch schon die Zeitungen fertig haben soll. Truhe auf dem Hubwagen, raus aus dem Lager, zu den Tiefkühltruhen. Tür öffnen, Karton rausheben, zur Tiefkühltruhe laufen, aufschneiden, schütten oder sortieren. So geht das die ganze Zeit bis was nicht passt. Dann hast du den Salat. Dann musst du das auf Rest packen. Je mehr nicht passt, desto schwieriger wird es die Zeit einzuhalten. Regelmäßig liefert das Zentrallager einem zu viel. Dann muss man sich mit den Backkräften absprechen, weil die sich trotz der überquellenden Reste noch in der Tiefkühlzelle bewegen können müssen. Der Zeitdruck und Platzmangel führen da regelmäßig zu Konflikten zwischen den Kollegen. Im Vergleich zu Obst und Gemüse ist das Verräumen der Tiefkühlware aber nicht so anstrengen
Beim Obst und Gemüse wird rangeklotzt. Bananenkartons ins Regal wuchten, kann man noch halbwegs sauber ausführen. Aber Strauchtomaten und Gurken müssen unten ins Regal, und zwar sehr viele Kartons, sodass man, um schnell zu sein, einen krummen Rücken macht. Wenn der Hubwagen oder die Ameise nicht richtig steht, dann muss man über die Palette rübergreifen. Denn um ständig „umzuparken“, fehlt die Zeit. Das geht nur gut, wenn man die Rumpfspannung eines gewichthebenden Gymnastikathleten hat. Dazu kommt, dass immer irgendwas umgestellt wird. Sodass man oft suchen muss, um den Platz zu finden, wo die Kiste hingehört, die man gerade in der Hand hält. Wenn alles verräumt ist, wird aufgeräumt und geputzt. Es muss die ganze Pappe eingesammelt, gefegt und gewischt werden. Denn die ganze Aus- und Einräumerei hinterlässt einen ziemlichen Saustall. Dann werden Abschriften gemacht. Die Ware, die nicht mehr verkauft werden kann, wurde früher für die Tafeln bereitgestellt. Heute macht Lidl sogenannte Retter-Tüten und verdient lieber selbst an rabattiertem Obst- und Gemüse, anstatt es der Tafel zu schenken. In vielen Filialen dauert das bis nach der Ladenöffnung, sodass man dann auch noch um die Kunden herumlaufen muss, während man Kartons mit Weißkohl trägt.
Eine Person fängt schon mal mit den Molkereiprodukten an. Hier muss viel gewälzt werden, damit die alte Ware vorne liegt, und zuerst gekauft wird. Die Kolleginnen sind meistens dick eingepackt, weil man schnell friert, während man die ganze Zeit an den offenen Kühlregalen arbeitet. Während dessen hetzt sich die Backkraft ab, um alle Artikel einmal reinschmeißen zu können, bevor die Kunden kommen.
Wenn morgens die Papppresse voll ist, dann haben wir richtig Geburtstag. Stau. Erstmal den Ballen rausholen, das kann dauern.
Dann holen sich alle nach und nach ihre Kassen. Vier Augen Prinzip. Ein Schicht- oder Filialleiter ist dabei, während man seine Kasse einwiegt. Wenn sie stimmt, geht man raus. Wenn man erste Kasse machen muss, freut man sich, wenn man vorher Obst und Gemüse gepackt hat. So hat man sich wenigstens ein bisschen bewegt, bevor man an den Stuhl gekettet wird.
Aber im Grunde, habe ich eben bloß den Idealfall geschildert. Je kleiner die Filiale, desto mehr Aufgaben pro Person. Je weiter weg vom Zentrallager, desto später kommt die Ware. Dann fängt man vielleicht erst an bestimmte Sachen zu verräumen, wenn der Laden schon vor Kunden überquillt. Bauliche Besonderheiten können nochmal extra Probleme machen, wenn man zum Beispiel einen Fahrstuhl benutzen muss, um vom Lager auf die Fläche zu kommen. Ab und an liefert ein gestresster LKW-Fahrer die falsche Palette oder Truhe an die falsche Filiale oder im Lager haben sie vor lauter Zeitdruck Paletten so gepackt, dass sie beim Losfahren umkippt. Und irgendwer muss auch noch irgendwie Non-Food aufbauen.
Zwischen Kasse und Fläche
An der Kasse muss man bei den meisten Läden ein festes Prozedere einhalten. Guten Tag, einmal den Wagen um die Kasse fahren bitte, einmal alles anheben bitte. Dann rüberziehen. Die Warenkennnummern müssen sitzen, ansonsten ist man viel zu langsam. Haben Sie Lidl Plus? Dabei muss man ständig abwägen wie sklavisch man sich an das Prozedere hält. Denn den Kunden geht das teilweise auf den Sack, und dann gehen die einem auf den Sack. Aber es ist auch immer möglich, dass ein Testkäufer kommt und eine Tafel Schokolade hinter der Selter oder eine teure Konserve in einem Kolli – das ist der Name von einem Karton voller Ware – billiger Konserven versteckt. Außerdem werden auch die Ladendetektive regelmäßig auf die Arbeiter angesetzt. Hinzu kommt die Sprachbarriere mit vielen Kunden. Viele proletarische Kunden mit Migrationshintergrund sprechen kein oder kaum Deutsch. Viele Kollegen sprechen kein Englisch, bzw. eine andere Sprache als Deutsch nur, wenn es die Muttersprache ist. Daher scheitert die Kommunikation regelmäßig oder verlangsamt den Kassiervorgang erheblich. Die Kunden missverstehen das Verhalten der Kassierer, das regelkonform sein muss, um Abmahnungen zu vermeiden, als rassistische Schikane. Wenn man den Leuten auf Englisch oder gar ihrer Muttersprache erklären kann, warum man das Kassierprozedere einhalten muss, entspannt sich die Situation immer erheblich. Es hilft natürlich nicht, dass einige Kolleginnen und Kollegen auch tatsächlich Rassisten sind, und in solchen Fällen ihren Chauvinismus bemerkbar machen.
Die einzigen Kunden bei denen es nicht hilft, ihnen das Kassenprozedere auf ihrer Muttersprache zu erklären, sind Deutsche, die sich für etwas Besseres halten. Genauso wie viele migrantische Kunden verstehen einige deutsche Chauvinisten das Kassenprozedere als rassistische Schikane. Die ist gegenüber den Anderen vielleicht angemessen, aber ihnen persönlich gegenüber eine Frechheit, über die man sich dann empört. Da wird dann gerne ein Paradebeispiel für „nach oben buckeln und nach unten treten“ geliefert und die Kassiererin angeschrien.
Mit Stammkunden kann man auch mal kurz Schnacken oder wenigstens ein paar lustige Sprüche austauschen, wenn die Schlange nicht zu lang ist. Das passiert aber immer seltener. Damit die Schlangen kurz bleiben, muss man so schnell wie möglich kassieren. Die Kunden in der Schlange sind genervt, weil man zu langsam kassiert. Die Kunden, die dran sind, sind gestresst, weil man zu schnell kassiert. Je nachdem wie die Kasse gebaut ist, hat man sehr begrenzt Fläche, um rüber gezogene Ware zu stapeln. Wenn sich mehr Kunden anstellen als man Kassiervorgänge erledigt, wird die Schlange immer länger. Dann muss man eine weitere Kasse öffnen. Die Kollegen, die zweite oder dritte Kasse machen, müssen aber auch die Arbeit auf der Fläche und im Lager erledigen. Die sind dann gestresst, weil sie an der Kasse sitzen, statt Ware zu verräumen, Pfandautomaten zu leeren, zu putzen oder sonst etwas.
Die Wut der Kunden ist ja auch gerechtfertigt, nur kann die Kassiererin am wenigsten dafür. Lidl stellt sich in seinem Interesse an Profit ignorant zum Stress der Kassierer und der Lebenszeit der Kunden und lässt die Schlangen wachsen, um seinen Profit zu steigern. Denn je weniger Arbeitskräfte pro Schicht, desto weniger Lohnkosten pro Umsatz.
In Corona-Zeiten sollten wir gleichzeitig auch noch Ordnungsamt spielen und die Kunden zum korrekten Tragen der Masken anhalten und an ihren Einkaufswagen erinnern. Darauf hat von uns nun wirklich keiner Bock. Securitys gibt es aber nur, wenn sie der Verkaufsleiter, also der Chef vom Filialleiter, sich leisten will.
Irgendwann kommt dann die Ware aus dem Trockensortiment ran. Je nachdem wann die Filiale vom Zentrallager aus angefahren wird, ist sie morgens schon da oder wird erst irgendwann angeliefert. Wenn man in den engen Gängen zwischen den Kunden kaum noch Platz hat zum Arbeiten, macht Verräumen richtig Spaß. Je nach Wochentag wird dann richtig rangeklotzt. Wer die Belastung nicht gewohnt ist, kriegt davon gern auch mal einen Tennisarm oder irgendeine andere Form von Entzündung. Besonders beliebt sind die Laden-kennen-lern-Paletten. Die sind so gepackt, dass man ein paar Sachen verräumt, und dann irgendwo anders hinfahren muss, und wieder zurück, und so weiter. Ähnlich toll, sind die Paletten, die dazu gedacht sind, den Platz im LKW möglichst effizient zu nutzen. Die sind so hoch, dass man ohne über 1,9 m zu sein, keine Chance hat von oben die schweren Sachen runter zu hieven. In einer Branche in der fast nur Frauen arbeiten, besonders clever. Dafür gibt es dann einen „Elefantenfuß“, eine Art Hocker. Aber den kann man alleine kaum transportieren, wenn man mit der einen Hand die Palette zieht, und mit der anderen den Pappwagen schiebt. Grundsätzlich gilt, je teurer der Artikel, desto schlechter der Karton. Dann friemelt man da ewig rum, bis man endlich den Deckel abgerissen kriegt, ohne den Rest zu beschädigen. Die billigen Kartons hingegen werden immer dünner und instabiler, und stellen dann nochmal eine zusätzliche Herausforderung dar, wenn man zum Beispiel einen ca. 11 kg schweren Kolli Bier über seinen Kopf ins Regal hievt, und dabei auch noch von allen Seiten mit den Händen stabilisieren muss, damit einem die Dosen nicht ins Gesicht fliegen. Wenn man zu zweit ist, kann man sich beim Verräumen wenigstens ein bisschen unterhalten. Lidl hat es aber gerne, wenn man alleine an der Palette arbeitet, weil dann leichter festzustellen ist, wer wie schnell arbeitet und die Kollegen sich nicht austauschen können.
Je weniger Leute da sind, je öfter man an die Kasse muss, desto eher drohen Überstunden. Andersherum bedeutet ein zu frühes Verräumen der Ware, dass jemand nach Hause geschickt wird, um Stunden zu sparen, die Leistung zu erhöhen, und die Familie Schwarz effizienter reicher werden zu lassen.
Die Spätschicht
Zwischen 12.00 und 14.00 Uhr beginnt die Spätschicht. Zunächst holt sich jemand eine Kasse und löst jemanden aus der Früh raus, die wird dann abgerechnet, und die nächste Kollegin holt sich eine Kasse und so weiter. Während dessen wird gepappt, und die Reste von der Troso – Trockensortiment – werden gefahren. Je nachdem wie die eigene Schicht und die nächste Frühschicht bestückt sind, bereitet man für die vielleicht auch was vor; evtl. ist auch schon Ware für den nächsten Tag da, die verräumt wird.
Der eigentliche Spaß besteht dann darin, dass in der Spätschicht lauter Großeinkäufe die Schlangen lang und den Laden voll machen, und die Anzahl angetrunkener Kunden mit jeder weiteren Stunde steigt. Die Kombination aus Patriarchat, Bier und Schnaps führt dann jede Schicht zu den unerwünschten Annäherungsversuchen, die an einem Ort, wo hauptsächlich Frauen arbeiten, und angetrunkene Männer Nachschub holen, in dieser Gesellschaft zu erwarten sind. Der enthemmte und gekränkte Macker lässt auf seinen Flirtversuch nach dem Korb dann auch gerne mal eine Beleidigung folgen.
Während man meistens zu wenig Leute hat, um ausreichend Kassen aufzumachen, muss man dann noch den gesamten Laden wischen, Preisschilder hängen, pappen und ggf. Obst und Gemüse umbauen, oder neue Non-Food Ware verräumen. Die Spätschicht wird besonders gerne ausgedünnt, weil die Ware oft schon in der Frühschicht verräumt wurde. Das heißt dann der Laden wird voller, die Kunden werden unzufriedener und aggressiver, und überall sieht es aus als wäre eine Bombe eingeschlagen.
Irgendwann kommt dann mal eine Revision vorbei, und man stellt fest, dass alles scheiße aussieht, weshalb die Leistungsziele heruntergeschraubt werden. Dann sieht der Laden gut aus. Dann kommt eine Revision vorbei und stellt fest, dass man da ja nochmal mehr rausholen kann, wenn es so ordentlich ist. Dann werden die Leistungsziele hoch gesetzt, und der Laden sieht wieder scheiße aus.
Corona und Inflation
Durch Corona sind die Umsätze extrem gestiegen. Home-Office und Lockdown heißt, niemand kauft sein Frühstück auf dem Weg zur Arbeit beim Bäcker, niemand kauft sein Mittagessen in der Kantine oder Mensa, niemand geht nach der Arbeit ins Restaurant. Alle gehen zum Supermarkt oder Discounter. Das heißt natürlich mehr Verräumen. Man möchte meinen, dass mehr Leute eingestellt werden, und mehr Leute pro Schicht eingeteilt werden. Das stimmt aber nur sehr bedingt. Denn für die Einzelhandel-Monopole ist das vor allem eine Chance aus der einzelnen Lohnstunde mehr Leistung rauszuholen. Acht Stunden arbeiten, heißt hier wirklich acht Stunden arbeiten. Selbst Kollegen, die vorher als Aushilfen auf dem Bau Fenster geschleppt haben, sagen, dass das die härteste Arbeit ist, die sie je gemacht haben. Denn da muss man vielleicht schwerere Sachen tragen, aber man kann auch zwischendurch mal durchatmen oder eine rauchen. Hier nicht.
In Kombination mit den Schulschließungen sorgt diese Belastung natürlich auch für Krankheitstage. Oder sagen wir besser freie Tage. Denn Filialleiter machen gerne Druck, dass man sich nicht krankmeldet oder sagen gönnerhaft, dass man sich ja nicht krankmelden müsse. Wohl wissend, dass man dann auch keine Kohle bekommt.
Als Dankeschön dafür, dass der Dienst am Kapital im Einzelhandel während der Pandemie relativ streikfrei vonstattenging, und man die Kampfmaßnahmen der Bourgeoisie brav hat über sich ergehen lassen, wurde zeitweise auf Balkons geklatscht. Danke für nichts. Da der Bourgeoisie klar wurde, dass so ein Schmarrn vielleicht nicht ausreicht, um den relativen sozialen Frieden aufrechtzuerhalten, hat die Regierung beschlossen, dass Arbeitgeber bis zu 1500 € auszahlen dürfen. Bei Lidl gab es Gutscheine, um bei Lidl einzukaufen. Die Rewe Group war bei ihrem Unternehmen Penny besonders spendabel. Die haben ihren Angestellten einen Gutschein für das eigene Reise-Unternehmen geschenkt. Einen Reisegutschein, während einer weltweiten Epidemie. Ernsthaft.
Durch die Inflation sind die Umsätze nochmal massiv gestiegen. Normalerweise wurde die Leistung bei Lidl berechnet als ein Verhältnis von Lohnstunden und Umsatz. Durch die Preissteigerungen ist der Umsatz gestiegen. Die Leute müssen immer noch Essen kaufen, es kostet nur mehr. Das heißt die alte Kennzahl für die Leistung veränderte sich fortlaufend zu Gunsten von Lidl. Das freut Lidl natürlich. Aber leider taugt diese Kennzahl dadurch nicht mehr so wirklich, um mehr Leistungsdruck zu machen, Stunden zu sparen, weniger Leute pro Schicht zu planen oder nach Hause zu schicken. Daher hat Lidl sich im Zuge der Inflation 2021 ff. eine neue Kennzahl einfallen lassen. Jetzt berechnet Lidl die Leistung als ein Verhältnis von Lohnstunden und Stückverkäufen. In dieser Kennzahl sind ein Gartentisch und ein Croissant das Gleiche. Während der Gartentisch für 50 €, der von einer Non-Food-Kraft in einen Aufsteller gehievt werden musste, und dann verkauft wurde, indem ein Kassierer den gelben Punkt mit der Nummer gefunden hat, um diese dann einzugeben, wurde das Croissant für 89 Cent mit 40 anderen aufgebacken und in die Ablage geschüttet, um dann in wenigen Sekunden über die Kasse gezogen, eingetippt und verkauft zu werden. Diese neue Kennzahl sagt so ziemlich gar nichts aus. Sie taugt aber ziemlich gut, um Leistungsdruck zu machen, weil sie das durch die Inflation bedingte Steigen der Leistung als Verhältnis von Lohnstunden und Umsatz kaschiert. Nach der alten Kennzahl steigt die Leistung die ganze Zeit, weil der Umsatz steigt, während die Löhne stagnieren. Nach der neuen Kennzahl steigt die Leistung nur, wenn wir härter und schneller arbeiten.
Schlimmer als Sozialpartnerschaft
Im Jahr 2008 deckte der Stern auf, dass Lidl systematisch Mitarbeiter durch angeheuerte Detektive bespitzelte, Klogänge protokollierte, mögliche Liebesbeziehungen und gewerkschaftliche Organisierung ermittelte. Daraufhin zündete die „Militante Gruppe“ die Baustelle einer Filiale an und Lidl änderte seine Unternehmensstrategie.
Heute wird bei Lidl eine „offene Gesprächskultur“ gepflegt, wo man Raum bekommt seine Perspektive zu schildern oder sowas. Da sitzt man dann mit der Filialleitung, oder dem Verkaufsleiter oder so ominösen Figuren wie „Personalbeauftragten“. Die stellen einem dann Fragen, die ganz empathisch wirken, aber vor allem Unzufriedenheiten ausloten sollen, um zu wissen, wer im Team ein Problem werden könnte. Der „Personalbeauftragte“ ist sowas wie ein Fake-Betriebsrat. Der gehört zur Personalabteilung und gaukelt den Angestellten vor ihre Interessen zu vertreten. So werden Widersprüche zwischen der Filialleitung als Repräsentant des Kapitalinteresses und der Belegschaft von einem „Außenstehenden geschlichtet“, der selbst das Kapitalinteresse vertritt. Die Arbeiter stehen so immer als Individuen im Klassenkampf ohne eigene Organisation. Als wären Betriebsräte von gelben Gewerkschaften nicht schon schlimm genug!
Was hierbei auch deutlich wird, ist, dass die Filialleitung ähnlich wie Kleinbürger „gespaltene Persönlichkeiten“ ist. Einerseits arbeiten sie mit uns, und auch nicht weniger hart als wir. Andererseits kriegen sie Druck und Belohnungen, damit sie das Interesse des Unternehmens vertreten. Firmenwagen, Tankkarte, mehr Stundenlohn und Bonuszahlungen. So sind sie hin- und hergerissen zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Deshalb gibt es die Verkaufsleiter und die „Personalbeauftragten“, die den Filialleitungen auf die Finger schauen und hauen.
Die Digitalisierung führt dazu, dass immer mehr der logistisch-planerischen Aufgaben der Filialleitung vom Algorithmus übernommen werden. Wenn korrekt kassiert wird, und das System weiß, was abverkauft wird, bestellt es selbständig. Dadurch fällt ein ganzer Aufgabenbereich, der früher vom Führungsteam gemacht wurde weg, und sorgt dafür, dass dieses auch diese Kompetenz nicht mehr braucht. Somit kommen mehr Leute als Filialleitung infrage, und die Konkurrenz wird verschärft. Die Löhne müssen aber noch ausreichen, um die Loyalität zu kaufen.
Ausbeutung, soziale Teilhabe und die Moral der Arbeiterklasse
Viele kleinbürgerliche Linke haben keinen Bock auf Arbeit, weil sie dekadente, bürgerliche Individualisten sind, die sich weigern erwachsen zu werden. Die verstehen dann auch nicht, dass zur Arbeit gehen, etwas Gutes ist. Dort macht man einen produktiven Beitrag zur Gesellschaft, verdient sein eigenes Geld, gewinnt also so viel Freiheit und Selbständigkeit wie es in dieser Gesellschaft für einen Proleten halt geht, und vor allem erlebt man das Miteinander mit den Kollegen.
Wir, die Arbeiterklasse, schaffen den ganzen Reichtum der Gesellschaft. Wir sind keine Parasiten. Und ja, darauf sind wir stolz. Das unterscheidet uns von den Bonzen und von den Lumpen, und leider auch von vielen kosmopolitischen, kleinbürgerlichen Linken. Und wir wälzen unsere Arbeit auch nicht auf Andere ab.
Wir gehen morgens zur Arbeit und erleben das Miteinander mit den Kollegen. Wir witzeln und lachen zusammen, während wir gemeinsam schaffen. Wir helfen einander und verhalten uns im Allgemeinen solidarisch und nicht egoistisch. Und die moderne Lohnarbeit zeichnet sich genau dadurch aus, dass sie beides ist: Ausbeutung und soziale Teilhabe. Natürlich ist Lohnarbeit Ausbeutung. Es ist die Herrschaft des Kapitals über unsere Verausgabung von Hirn, Muskel und Nerv, damit sie immer reicher werden, und wir arm bleiben. Aber Lohnarbeit ist auch Arbeit. Produktives Schaffen, ein Beitrag zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung, Kollektivität.
Allerdings nutzt die Bourgeoisie diese Moral der Arbeiterklasse auch zu ihrem Vorteil. Weil die Löhne niedrig sind, bewirbt sich kaum jemand und überall ist die Personaldecke dünn. Daher geht man dann auch krank zur Arbeit, damit die Kollegen es nicht ausbaden müssen. Wenn doch jemand krank zu Hause bleibt, wird die Arbeit für alle intensiver, und alle klotzen ran, damit die nächste Schicht nicht noch mehr Arbeit hat, bzw. nicht andere die eigene Arbeit übernehmen müssen.
Es ist also ein wichtiger Schritt von der spontanen Solidarität miteinander hin zu einer organisierten Solidarität zu kommen, sodass wir uns nicht gegenseitig Leistungsdruck im Interesse des Kapitals machen, sondern gemeinsam gegen das Profitinteresse kämpfen, um unser Interesse an höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Als im Nahverkehr gestreikt wurde, wurde uns von der Filialleitung angesagt, dass wir uns gefälligst darum kümmern sollen, wie wir zur Arbeit kommen. Daraufhin meinte ein Kollege: „Streiken? Können wir doch eigentlich auch mal machen!“ Recht hat er.

